Die Einsamkeit der Seevögel

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Tief im verschneiten Norwegen: Gøhril Gabrielsen hat mit „Die Einsamkeit der Seevögel“ einen Roman geschrieben, der sich wie eine eiskalte Hand in den Nacken legt.

Eine Person mittleren Alters, die sich aus freier Entscheidung in eine einsame, karge Landschaft zurückzieht: Ein Topos, den man in der Literatur oft findet – meistens aber mit Männern in der Hauptrolle. Dass aber auch Frauen den Wunsch verspüren, sich in kompletter Stille mit der Natur zu verbinden, zeigte vor zwei Jahren zum Beispiel Celine Minard mit Das große Spiel – und jetzt auch Gøhril Gabrielsen mit Die Einsamkeit der Seevögel.

Während sich die Hauptfigur bei Minard in eine selbst entworfene Wohnhöhle in den Bergen zurückzieht – und sich als Forschungsobjekt betrachtet – hat die Protagonistin bei Gabrielsen keine Selbstbegegnung im Sinn, sondern einen offiziellen Auftrag: Sie ist Wissenschaftlerin und soll die Auswirkungen des Klimawandels auf die Populationen von Seevögeln erforschen. Sie tut das in einem weit abgelegenen Fjord Norwegens, der Finnmark. Nur ihre Hütte steht in der tief verschneiten Landschaft:

„Hier ist das Ende der Welt. Danach kommt nichts mehr. Ein endloses Meer grenzt an Klippen und Berge, zwei Extreme, die unaufhörlich miteinander ringen, bei ruhigem Wetter wie bei Sturm.“

Der nächste Ort ist hundert Kilometer entfernt, ihr einziger menschlicher Kontakt ist ein Seefahrer, der ihr in regelmäßigen, aber langen Abständen Lebensmittel vorbeibringt. „Im Einklang mit der mich umgebenden Natur werde ich mich entfalten, regelrecht aufblühen“, denkt sie. Und überhaupt soll in wenigen Wochen ihr Freund Jo nachkommen. Das ist der Plan. Doch der geht nicht auf.

Wer schon einmal längere Zeit mit sich alleine verbracht hat, weiß: Oft bringt das Gedanken und Gefühle an die Oberfläche, die man lieber im Verborgenen gelassen hätte. Doch man kann sich nunmal nicht entgehen und so sieht sich auch die Erzählerin unweigerlich mit sich selbst konfrontiert. Schuldgefühle darüber, dass sie für das Forschungsprojekt ihre Tochter Lina bei ihrem Vater zurückgelassen hat; dem Ex-Mann, aus dessen brutalem Griff sie sich – so dachte sie – mit Mühe und Not befreit hatte. Zweifel an der Beziehung zu Jo, der mit jedem umständlich hergestellten Telefonat seine Ankunft mit verwaschenen Ausreden hinauszögert.

Norwegen

Und dann ist da noch die Geschichte des Ehepaares, das vor hundert Jahren in der Hütte gewohnt und mit den harschen Lebensbedingungen gekämpft hatte, bis es zu einer Tragödie kam. Plötzlich legt sich ein Schleier über ihre Wahrnehmung, hört sie Geräusche, fühlt sich beobachtet, kann nicht mehr genau sagen, was wirklich passiert und was sie sich nur einbildet. Ein Horrorszenario für eine durch und durch rational organisierte Wissenschaftlerin wie sie:

„Druck, Stärke, Menge und Anzahl, gemessen in Hektopascal, Metern pro Sekunde, Prozent und Grad Celcius, stehen für eine glasklare Sprache, in der zu denken ich so gewohnt bin, dass ich selbst etwas zu Unbegreifliches, Schwebendes wie die Liebe auf den den ersten Blick als Ergebnis einer messbaren atmosphärischen Störung betrachten kann. […] Alles lässt sich rational erklären. Das habe ich gedacht, zumindest bis jetzt.“

Gabrielsen ist ein erstaunlicher Roman gelungen, der, obwohl auf den ersten Blick so ruhig und wie von einer leichten Schneeschicht bedeckt, enorm explosiv ist. Toxische Männlichkeit und Emanzipation, Schuldgefühle und Selbstbewusstsein, Verstand und Gefühl, Realität und Halluzination, Nature writing und Klimawandel sind nur ein paar der Themen, die in diesem eigentlich schmalen Bändchen auftauchen.

Über allem steht der verzweifelte Versuch, die Deutungshoheit über die eigene Psyche zu behalten: „[…] ich will auf keinen Fall in die Statistik einsamer Forscher eingehen, die sich in ihrer eigenen Psyche verirrt haben“, sagt sie an einer Stelle zu sich selbst. Da ist es eigentlich schon zu spät. Alles löst sich auf, die bekannten Parameter verlieren ihre Gültigkeit. Wer ist sie in der Welt, ohne auf andere Menschen zu reagieren? Die Einsamkeit der Seevögel fühlt sich an wie eine eiskalte Hand im Nacken, beklemmend, faszinierend, brutal. Ein intensives und rätselhaftes Psychodrama erster Klasse.

Gøhril Gabrielsen
Aus dem Norwegischen von Hanna Granz

Die Einsamkeit der Seevögel
Insel Verlag, 2019
Gebunden, 174 Seiten, 20,- Euro