Literarische Dorfjugend

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Literatur beschäftigt sich in letzter Zeit auffallend viel mit Herkunft, Familie – und dem Dorf als Ort des Geschehens. Warum ist das so?

Seit vielen Jahren ist die Rede von der „Landflucht“, dem Wegzug aus dörflichen Gegenden in die urbanen Räume mit ihren dicht besiedelten, niemals schlafenden Großstädten. In der Literatur lässt sich allerdings das Gegenteil bemerken: Immer häufiger sind Romane genau in jenen verschlafenen Kleinstädten und Dörfern angesiedelt, aus denen die Autor*innen weggezogen sind. Auch auf der Longlist des diesjährigen Deutschen Buchpreis finden sich erstaunlich viele Bücher, die sich um Herkunft und ländliche Regionen drehen. Das Dorf gibt es zwar schon immer als Handlungsort in Geschichten, die neu entdeckte Liebe dazu ist allerdings auffällig. Auch viele der „Männer, die literarisch ihre Kindheit verarbeiten“, kehren dafür zurück ins Dorf.

Woher kommt diese – nicht immer nostalgisch-verkitschte – Sehnsucht nach dem Ort der eigenen Herkunft? Hat die Figur des überreizten, nie gesättigten Großstädters, der sich in nächtlichen Exzessen verliert und nicht erwachsen werden möchte, etwa ausgedient – zu Gunsten einer reflektierten, langsamen Lebensweise zwischen Hühnerstall und eingekochter Marmelade? Ist das noch Gesellschaftsanalyse oder schon Eskapismus?

Dorf

Dorfidylle in Caputh bei Potsdam / Foto: Fräulein Julia

Im Falle von Christoph Peters Dorfroman ist es vor allem ein Blick zurück und eine atmosphärisch dichte Beschreibung bundesrepublikanischer Bräsigkeit. Der Erzähler wächst in den 70er Jahren in einer sehr konservativen Dorfgemeinschaft am Niederrhein auf; der Alltag ist von Pflichten durchgetaktet, am Sonntag geht man mit gestärktem Spitzenkragen in die Kirche und das Kreuzchen bei der Wahl gehört der CDU. Fremde beäugt man kritisch, Zugezogene müssen erst ihren guten Willen zur Integration beweisen, bevor man sie in die Gemeinschaft aufnimmt. Es herrscht der alltägliche Rassismus und Sexismus. Auch der 15-jährige Junge, aus dessen Perspektive die Geschichte geschildert wird, kann die Prägung seines Milieus nicht so leicht abschütteln. Doch als unweit des elterlichen Grundstücks ein Atomkraftwerk gebaut werden soll und eine Gruppe Atomkraftgegner sich im Dorf einnistet, kommt er ins Grübeln. Und lässt sich die Haare wachsen – sehr zum Verdruss seiner Eltern:

„So geh ich nicht mit dir über die Straße“, sagte mein Vater.
„Musst du ja nicht“, sagte ich.
„Du siehst aus wie ein Mädchen – pass auf, dass dir nachher nicht
die Schwulis nachlaufen.“
„Männer mit langen Haaren sind völlig normal heutzutage.“
„Von mir aus können sie normal oder unnormal sein, aber deswegen brauchen wir das noch lange nicht bei uns in der Familie.“

Dank einer zweiten Erzählebene aus der Gegenwart – die Hauptfigur ist längst in die Stadt gezogen und besucht die alt gewordenen Eltern gelegentlich – wissen wir: Das Atomkraftwerk „Schneller Brüter“ wurde zwar trotz umfangreicher Proteste gebaut, ging jedoch nie ans Netz. Dass dort mittlerweile Oldie-Parties mit schlechten Tribute-Bands stattfinden, besorgt dem Erzähler regelmäßig eine Gänsehaut. Manchmal überlegt er, zurück in sein Heimatdorf zu ziehen. Doch Menschen ziehen meistens nicht ohne Grund aus der Gegend weg, in der sie aufgewachsen sind und so verdrängt er diese Idee jedes Mal schnell wieder.

Dorf

Nicht Unterleuten, sondern Rheinsberg / Foto: Fräulein Julia

Im Mittelpunkt von Juli Zehs Unterleuten steht nicht der Bau eines Atomkraftwerks, dafür eines Windparks – der Roman ist also eindeutig in der Gegenwart angesiedelt. Auch hier bringt das Vorhaben die alteingesessene Dorfgemeinschaft durcheinander, spaltet sie auf in Befürworter und Gegner des Neubaus. Im Zuge der Diskussionen werden Jahrzehnte alte Fehden wieder aufgewärmt, so dass am Ende alle zerstritten sind.

Und Berliner, die die Großstadt zwecks Ruhe und guter Luft verlassen und sich in Unterleuten niederlassen wollen, werden dort erst recht misstrauisch beäugt. Selbst möchte man hier – trotz weitem Blick über die brandenburgischen Felder – wirklich nicht wohnen. Zehs Roman wurde zum Kassenschlager und letztendlich sogar für das Fernsehen verfilmt, auf einer Webseite kann man darüber hinaus einen virtuellen Rundgang durch das fiktive Dorf machen.

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Hier steppt nicht der Bär, dafür gibt es in Monreal in der Eifel wunderschönes Fachwerk / Foto: Fräulein Julia

In der Sparte der Belletristik bildet das Dorf also scheinbar die ideale Vorlage für den Gesellschaftsroman, die Begrenztheit der Anzahl von Protagonist*innen macht die Konstellationen überschaubar und im Zweifelsfall ist sowieso jeder mit jedem verwandt oder verschwägert. Mindestens aber verfeindet.

Feindschaften und zahlreiche Leichen im Keller findet man auch bei Dörte Hansen und ihrem Roman Mittagsstunde, der – ebenfalls auf verschiedenen Zeitebenen wie bei Christoph Peters – vom langsamen Zerfall eines ostfriesischen Dorfs erzählt. Auch hier kehrt ein Mann mittleren Alters (der tatsächlich „Ingwer“ heißt) zurück an den Ort seiner Kindheit; einem Ort, der einst in voller Blüte stand, dann aber mit der Flurbereinigung in den 70er Jahren immer rasanter in die Bedeutungslosigkeit gerutscht ist.

Jetzt leben dort nur noch seine arg in die Jahre gekommenen Großeltern, die ihn aufgezogen haben, weil die Mutter nicht anwesend war. Während das Dorf zerfällt, blickt Ingwer zurück und stolpert natürlich über das ein oder andere Geheimnis. Über die Felder staksen die Störche und in der Ferne bellen die Hunde. Zwar zieht Ingwer temporär zurück in die Stätte seiner Kindheit – aber hier leben? Nein danke.

Dorf

Irgendwo in Oberbayern / Foto: Fräulein Julia

Herkunft, Familiengeheimnisse, Nachbarschaftsstreit, Aufarbeitung von Traumata und die Verortung der eigenen Person im Weltgefüge – wo ist mein Platz in der Welt, wo komme ich her, wo gehe ich hin? – sind als wiederkehrende Topoi vielen Dorfromanen gemein.

Das gilt auch für Raphaela Edelbauers Roman Das flüssige Land, dem wohl eigenwilligsten Dorfroman der letzten Zeit – und gleichzeitig einem der besten. Mitten in der Dissertation wird Ruth Schwarz darüber benachrichtigt, dass ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind und sie sich um deren Beerdigung in Dorf Groß-Einland kümmern soll. Groß-was? Ruth kann sich nur verschwommen daran erinnern, dass ihr Vater ihr von seinem Heimatdorf erzählt hat, sie hielt es stets für einen Ort aus dem Märchen. Märchenhaft wirkt er auch, als die Erzählerin ihn nach langer, aber planloser Autofahrt wie zufällig findet:

„In einer solchen Wohlgeordnetheit, wie sie nur ein mittelalterlicher Markt zustande bringen kann, trat das Epizentrum des alltäglichen Geschehens bereits vom Tor aus in Erscheinung: ein rechteckiger Hauptplatz, an den sich pittoreske Gebäude anschlossen: eine puppenstubenhafte Volksschule; ein rot bepinseltes Postamt mit goldenem Horn; eine Bäckerei, an deren Toren eine glänzende Brezel wippte“

Dieser seltsame Ort wird nicht nur von einer Gräfin regiert (obwohl er sich, vom Gesetz her, auf österreichischem Boden befindet), sondern hütet auch ein dunkles Geheimnis: Unter dem Dorf befindet sich ein Loch – ein Loch, das immer größer wird und das gesamte Dorf zu verschlucken droht. Ruth verwickelt sich immer stärker in die Machenschaften der Menschen in Groß-Einland und irgendwann wird auch dem begriffstutzigsten Leser klar: Hier stimmt etwas nicht. Diese Erzählerin ist absolut unzuverlässig. Ein hinterlistiger, brillanter Text.

„Wer das Dorf, aus dem er kommt, nicht kennt, der wird das Dorf, das er sucht nie finden“, lautet ein Sprichwort. In der zeitgenössischen Literatur gibt man sich große Mühe, dass das nicht passiert.

Erschienen im „Kulturjournal Fräulein Julia“