In Zeiten von „socialdistancing“ kann Literatur helfen: Wie gehen andere Menschen mit dem Alleinsein um? Ich habe Bücher dazu rausgesucht.
Im Zuge der Ausbreitung des Corona-Virus wurde von Tag zu Tag vehementer dazu aufgerufen: Bleibt zuhause, vermeidet Kontakt mit anderen Menschen! Schnell setzten sich die Hashtags staythefuckhome und socialdistancing als Motto durch. Letzteren finde ich irreführend, denn es geht ja nicht darum, dass wir alle sozialen Kontakte auf einmal abbrechen und weinend unter der Bettdecke liegen, sondern dass wir körperlich nicht mit fremden Menschen in Kontakt kommen. Physicaldistancing passt also besser und das mit dem Zuhause bleiben habt ihr sicherlich auch alle verstanden.
Auch ich bin bereits seit über einer Woche fast rund um die Uhr in meiner Wohnung, nur für meine journalistische Berichterstattung verlasse ich notgedrungen das Haus. Da bleibt viel Zeit, dass eigene Bücherregal zu sortieren und Listen zu erstellen. Zum Beispiel eine mit Büchern, in denen sich Menschen bewusst aus dem hektischen Treiben der Stadt aufs Land zurückgezogen haben und Sozialkontakte weitestgehend vermeiden. Erstaunlicherweise habe ich gleich neun Stück gefunden – offenbar lese ich gerne über dieses Thema … Welche Bücher das sind
Neil Ansell
Tief im Land
Neil Ansell gehört zu den Autoren des britischen New Nature Writing, das
in den letzten Jahren immer populärer wurde. Er zog sich für ganze fünf
Jahre in ein kleines Cottage in den Hügeln von Wales zurück, ohne Strom
und Gas und mit ganz viel Natur um sich herum. Nachbarn gibt es schon,
aber die sind weit weg und genauso eigenbrötlerisch, man sieht sich nur
selten. Ein stilles Büchlein ist es, voll mit ausgiebigen Beschreibungen
von Flora und Fauna, vor allem auch dem Verhalten der heimischen Vögel.
Zitat
„Als ich einmal im Laden meine Einkäufe tätigte, sie an der Kasse
abstellte und mit dem Besitzer des Ladens sprach, brach mir die Stimme.
Erst dann wurde mir klar, dass ich seit mindestens zwei Wochen kein Wort
mehr von mir gegeben hatte.“
Allein in den Waeldern von Howard Axelrod
Howard Axelrod
Allein in den Wäldern
Wem kannst du trauen, wenn du dich auf deine eigene Wahrnehmung nicht
mehr komplett verlassen kannst? Bei einem Unfall verliert Howard Axelrod
die Sehkraft auf einem Auge, die räumliche Orientierung fällt ihm
fortan schwer. Als Konsequenz zieht er sich in ein Häuschen im Wald
zurück, um sich neu zu sortieren und seine Intuition zu schärfen. Das
gelingt ihm gut; doch irgendwann stellt er fest: soziale Isolation kann
ganz schön an die Substanz gehen. Aber kann man, nach zwei Jahren in der
Abgeschiedenheit, zu einem Leben in der Zivilisation zurückfinden?
Zitat
„Dass ich hierher in die Wälder gekommen war, hatte nichts mit einer
Herausforderung oder mit einem Rückzug zu tun – es war nichts, wozu ich
mir Notizen machen wollte, um es für später zu konservieren, wie Beeren,
die man im Sommer für später sammelt. Ich wollte einfach leben, ohne
mich für irgendjemanden verstellen zu müssen, mich selbst
eingeschlossen.“
Henry Beston
Das Haus am Rand der Welt
Nicht in den Wald, sondern auf die weitgehend menschenleere Landzunge
Cape Cod zieht sich Henry Beston 1926 zurück. Er baut sich ein kleines
Haus mit großen Fenstern, durch die er auf das Meer schauen und die
Gezeiten beobachten kann; er philosophiert über Wellen und schaut dem
Strandhafer dabei zu, wie er im Wind wiegt. Er ist gerne mit sich allein
(auch wenn hin und wieder jemand für einen kurzen Schnack vorbeikommt)
und genießt die Ruhe und die Verbindung mit den Elementen und
Jahreszeiten. Ein wundervolles Buch, das beim Lesen entschleunigt und
einem ein leichtes Wellenrauschen ins Ohr zaubert…
Zitat
„Die heutige Welt krankt an einem Mangel an elementaren Dingen wie
offenem Feuer, das vor einem knistert, Wasser, das aus dem Boden quillt,
Luft, ja, selbst der Erde unter den Füßen. In meinem Reich aus Strand
und Dünen waren solche elementaren Erscheinungen präsent und lebendig,
und sie beschrieben einen Bogen, der den Rhythmus der Natur und des
Jahres zu einem unvergleichlichen Schauspiel verband.“

Erling Kagge
Stille. Ein Wegweiser
„Es ist hier gerade jeden Tag so still, als wäre Sonntagmorgen“, schrieb
ich kürzlich einer Freundin. Aber ist es wirklich still? Und was
bedeutet Stille eigentlich? Erling Kagge hat darüber mal ein Buch
geschrieben, 2017 ist es im Insel Verlag erschienen. Darin erzählt er
von seinen persönlichen Erfahrungen mit Stille; sei es bei einer Tour
durch die Antarktis, bei der sie richtiggehend in den Ohren schmerzen
kann oder auf dem Mount Everest. Eine wichtige Erkenntnis hatte er dabei
auch: Stille kann man auch in sich selbst finden, völlig unabhängig von
den Geschehnissen in der Außenwelt. In dieser wirren Zeit ist das ein
guter Rat, finde ich.
Zitat
„Die Stille um dich herum kann viel enthalten, aber für mich ist die
interessanteste Stille diejenige, die in mir ist. Eine Stille, die ich
in gewisser Weise selbst schaffe. Daher suche ich nicht mehr nach der
absoluten Stille um mich herum. Die Stille, auf die ich aus bin, ist die
Stille in mir.“
Michael Finkel
Der Ruf der Stille
Da ist sie wieder, die Stille. Michael Finkel hat die Geschichte von
Christopher Knight aufgeschrieben, der fast drei Jahrzehnte völlig
zurückgezogen im Wald lebte – und auch in den härtesten und
entbehrungsreichsten Wintern nicht den Kontant zu Menschen suchte. Um
sein Überleben zu sichern, brach er in leerstehende Ferienhäuser ein und
stahl die Vorräte. Bis er eines Tages gefasst wurde. Was hat diesen
Mann zu diesem radikalen Entschluss getrieben? Finkel zeichnet das
Porträt eines Mannes, der einfach nur in Ruhe gelassen werden möchte.
Zitat
„Knight hatte aus dem Chaos eine wohnzimmergroße Lichtung erschaffen,
die aus einigen Schritten Entfernung völlig unsichtbar war, geschützt
von einem natürlichen Findlings-Stonehenge und einem Tannendickicht.
Oben bildeten verschlungene Äste ein dachartiges Rankengatter, das den
Einblick aus der Luft verhindert. Deshalb war Knight so käsig. Er hatte
im ewigen Schatten gelebt.“
Gøhril Gabrielsen
Die Einsamkeit der Seevögel
Den Schneid muss man erstmal haben: Eine Wissenschaftlerin begibt sich
im Winter alleine in die Finnmark, die nördlichste Region Norwegens.
Hier will sie über einen Zeitraum von sechs Monaten die Auswirkungen des
Klimawandels auf die Population von Seevögeln beobachten. Eigentlich
soll ihr Partner Jo hinterherkommen, doch der zögert mit jedem Anruf
(per Satellitentelefon) stärker. Zwischen dem Himmel und den
Schneemassen lässt sich schwer unterscheiden – und auch die Grenzen
zwischen Realität, Halluzination und Traum verschwimmen bei der
Erzählerin zusehends. Wird sie verfolgt, ist noch jemand außer ihr in
der Nähe? Die Einsamkeit der Seevögel fühlt sich an wie eine
eiskalte Hand im Nacken, beklemmend, faszinierend, brutal. Ein
intensives und rätselhaftes Psychodrama erster Klasse.
Zitat
„Hier ist das Ende der Welt. Danach kommt nichts mehr. Ein endloses Meer
grenzt an Klippen und Berge, zwei Extreme, die unaufhörlich miteinander
ringen, bei ruhigem Wetter wie bei Sturm.“
Céline Minard
Das große Spiel
In einer abgeschiedenen Gegend in den Bergen baut sich eine Architektin
eine Behausung aus glasfaserverstärktem Kunststoff, mit einem
Panorama-Fenster für den Blick in den Abgrund. Ihre „Lebensröhre“, in
die sie sich zurückzieht für ein Experiment: Wie lebt es sich fernab der
Gesellschaft, allein mit der kargen Natur, der man Wasser und Nahrung
in mühsamer Arbeit abtrotzen muss? Ist der Rückzug in die vollständige
Abgeschiedenheit und Autarkie eine notwendige Voraussetzung für den
eigenen Seelenfrieden? Wie im Roman von Gabrielsen weiß man auch hier
nicht immer, ob die Erzählerin träumt, halluziniert oder gewisse
Ereignisse real sind. Eben ebenso radikales wie ruhiges Buch.
Zitat
„Wenn es für diesen Raum eine Ästhetik gibt, dann die des
Überlebens. Wenn es eine Entscheidung gibt, dann meine Entscheidung,
mich unter schwierigen Bedingungen niederzulassen. In völlige Autonomie.
In Sicherheit. An einem überdachten Ort, der von der Sonne gewärmt
wird, in den das Licht eindringt, der Schutz bietet.“
Hansjörg Schertenleib
Palast der Stille
Der Text Walden von Henry David Thoreau ist auch knapp 170
Jahre nach der Veröffentlichung noch immer Vorbild für zahlreiche
Menschen, so auch für Hansjörg Schertenleib. Palast der Stille erzählt
von einem Mann (es sind übrigens oft Männer, die sich in die Natur
zurückziehen), der in einem kleinen Haus an der Ostküste Amerikas lebt,
Schnee schippt, Tiere beobachtet, über sich selbst und die Welt
nachdenkt. Wie redet man, wenn man mit sich alleine ist, welche Gedanken
tauchen auf?
Zitat
„Auf der Wiese gegenüber unserem Cottage scheint der Wind –
er bläst aus Norden, aus Kanada – Kraft zu sammeln, Luft zu holen. Möwen
lassen sich von ihm in die Höhe reißen und aufs Meer tragen, er weht
Schnee von den Büschen, die Colbys Grundstück begrenzen, lässt die
kahlen Äste der Hemlocktannen, Zedern, Gelbbirken und Fichten im Wald
hinter mir ächzen, zieht Schneefahnen über dem Wald auf.“
Josef Zweimüller
Grün
Jahrelang hatte Jona mit seiner Mutter Finja in einem Haus im Wald
gelebt, weder Strom noch warmes Wasser gab es hier, dafür Stille und
Natur. Nach dem Tod von Finja bleibt Jona allein zurück, bietet
Überlebenstrainings für abenteuerlustige Städter an. Bei einem dieser
Workshops lernt er Hikaru kennen, die eine Weile bei ihm lebt – bis er
sie nach einem eigentlich harmlosen Vorfall verstößt. Kurze Zeit später
kommt es in der Stadt zu rätselhaften Guerilla-Aktionen mit grüner Farbe
– steckt Jona dahinter?
Zitat
„In einer sternenklaren Vollmondnacht raschelte, knackte und flatterte es im Wald lauter als gewöhnlich. Geräusche, die sich in Jonas Traum zu einem Rauschen, Glucksen, und Gurgeln verwandelten. Er selbst war ein kleiner, silbrig glänzender Fisch, wie es sie im Fluss zu Hunderten gab, doch seltsamerweise schwamm er allein durch die Fluten.“
Erschienen im „Kulturjournal Fräulein Julia“