Gefangen im Instagramfilter

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Hipster, Hafermilch und Hängepflanze: Vincenzo Latronico seziert mit „Die Perfektionen“ Berlins Expat-Szene. Das ist ziemlich gut.

„Ich wohne seit drei Monaten in Berlin und verachte schon alle, die nach mir gekommen sind“, lautet ein spöttischer Spruch, der vor ein paar Jahren in Berlin die Runde machte. In den Mund gelegt wurde er gerne all jenen Menschen, die seit ein paar Wochen zur Unter-unter-unter-untermiete auf Zeit in einem überteuerten Schlauchzimmer zum Hinterhof wohnten, das aber immerhin in „Kreuzkölln“ lag, und sich bereits als „true Berliners“ wähnten, weil sie einmal sehr tapfer zwei Stunden für einen der durchschnittlichen Gemüsedöner bei Mustafa auf dem Mehringdamm angestanden hatten. „Absoluter Geheimtipp, guys!“

Sie tragen pastellfarbene Seidenblousons und Karottenjeans aus den 80er Jahren, die sie in „one of these cute little Secondhand-Shops“ im Schillerkiez gekauft haben und trinken ausschließlich flat white mit Hafermilch in einem der Cafés, die mit ihrem schlichten Design aus Edelstahlmöbeln und Schulstühlen nicht voneinander zu unterscheiden sind. Dazu knabbern sie an ihrem Sauerteigbrot, das mit einer dünnen Schicht Avocado bestrichen ist und für dessen Preis andere Menschen ihren ganzen Wocheneinkauf bestreiten. „It’s SO authentic“ sagen sie zu den nächtlichen Messerstechereien auf der Sonnenallee und den Fixern, die sich am hellichten Tag auf der Treppe zur U-Bahn ihren Schuss setzen, „that’s SO Berlin!“

„That is SO Berlin!“

Es ist eine einzige Anhäufung von Klischees über „Expats“, also all jene Zugezogenen aus der gutbürgerlichen Mittelschicht anderer Länder wie England, Spanien, Frankreich oder Italien (die „guten Ausländer“, wie ich es schon gehört habe, denn „die anderen“ werden ja als Migranten bezeichnet), die nach Berlin kommen, um hier zu leben und als „digitale Nomaden“ zu arbeiten. Vincenzo Latronico weiß das, denn er gehört – in Rom geboren und in Berlin wohnend – vermutlich selbst dazu. Sein Roman „Die Perfektionen“ spielt mit diesen Klischees. Und das ist so gut und so wahr, dass es weh tut.

Er erzählt die Geschichte von Tom und Anna, die nach dem Studium in ihrem südländischen Heimatland mit einem Koffer voller Erwartungen nach Berlin ziehen. Es sind die ersten Jahre des neuen Jahrtausends (der Autor und ich sind nicht nur fast gleich alt, sondern scheinen auch ungefähr zu selben Zeit – 2005 – in die Stadt gekommen zu sein). Berlin ist damals noch eine gigantische Spielwiese mit etlichen Bombenbrachen, leerstehenden Häusern, in dessen Kellern wilde Parties gefeiert werden. In den unsanierten Altbauhäusern in ehemaligen Osten der Stadt sind noch Einschusslöcher aus dem Zweiten Weltkrieg sichtbar.

Wofür eigentlich Deutsch lernen?

Tom und Anna bleiben. Sie bleiben allerdings nicht nur in der Stadt, sondern auch in ihrer Blase aus anderen „Expats“, die sich in Berlin selbst verwirklichen wollen, dann aber meistens während des ersten Winters schon die Segel streichen – sechs Monate Eiseskälte, keine Sonne und gefrorene Hundekothaufen auf den Bürgersteigen muss man können und wollen. Sie arbeiten als Webdesigner für Firmen in ihrem Heimatland, lernen nur wenig Deutsch – „Seriously, German is SO complicated and you don’t really need to learn it, because almost everybody speaks English!“ –, tiefe Freundschaften entstehen nicht.

Aber meistens hocken die Beiden sowieso zu zweit in ihrer großen Altbauwohnung in Neukölln, die sie mit einem gefälschten Arbeitsvertrag bekamen, als man für einen Mietvertrag innerhalb des S-Bahnrings noch nicht sein Erstgeborenes verkaufen musste. Ihr Leben ist klar, fokussiert und einfach, heißt es. Wie auf einem der geschönten Instagrambilder, mit hohen Decken, sattgrünen Monsteras und Teakholzmöbeln aus den 50er Jahren (ich bekenne mich an dieser Stelle schuldig).

Man gießt die Pflanzen, als Teil einer Routine, die auch Yoga und ein durch verschiedenerlei Samen bereichertes Frühstück mit einschließt. Man arbeitet zwar am Laptop, doch gleicht der Arbeitsrhythmus eher dem eines Malers denn dem eines Angestellten. […] Aber es ist auch ein Leben, in dem Spaß seinen klaren Platz hat, erkennbar an zahllosen Details. Den langen Tagen folgt eine Stunde der erzwungenen Unerreichbarkeit, um einen Aperitif in der Bar zu trinken oder, aufs Sofa gekuschelt, in einer Zeitschrift zu blättern und sich bei draußen herrschender Kälte an der wohligen Wärme zu erfreuen.“

Doch Berlin verändert sich. Immer mehr Menschen ziehen in die Stadt, um ihren persönlichen Traum wahr werden zu lassen. Manche scheitern recht schnell an der Anonymität und der Ruppigkeit der Berliner Schnauze, andere kaufen die noch billigen Immobilien auf, um sie in aalglatte Ferienwohnungen zu verwandeln und die Wohnungssuche zur Suche nach dem heiligen Gral zu machen. Die Freiräume werden zugebaut, die Lage übersichtlicher. Was kann Berlin ihnen noch bieten, fragen sich Tom und Anna. Und sind sie nicht selbst „Schuld“ an dieser Veränderung?

Das, was mit der Stadt geschah – die Verdrängung der ursprünglichen Bewohner durch jüngere, reichere Neuankömmlinge und der Anstieg der Preise und die verstärkte soziokulturelle Homogenität –, war Gentrifizierung genannt worden. […] Anna und Tom war das deutlich bewusst. Sie besuchten Lokale, in denen das handgebraute Bier das Dreifache des Pils in den Kiezkneipen kostete; sie tummelten sich vor Kunstgalerien, die die Ladenschilder der Trödler und Schuster, die sie verdrängt hatten, ironisch in ihren Schaufenstern hängen ließen.“

Vincenzo Latronico, dessen Roman Verena von Koskull ins Deutsche übertragen hat, zeichnet sich durch eine ziemlich scharfe Beobachtungsgabe aus. Der Text ist ausschließlich im Plural geschrieben, was die beiden Hauptfiguren zu einer Einheit macht, ihnen aber auch jegliche Tiefe nimmt. Das ist vermutlich Absicht: Tom und Anna sind weniger einzelne Charaktere denn Schablone – oder eben das klassische Expat-Klischee. Dass sie, die gar nicht so richtig wissen, was sie vom Leben eigentlich möchten, langfristig nicht glücklich in dieser Stadt sein werden, ist nur folgerichtig. Wer sein Leben dauerhaft für Instagram inszeniert, wird an der harten Realität scheitern. „Denn dit is eben ooch Balin: Dann jehste eben wieda“.

„Vincenzo Latronico hat den Berlinroman wiederauferstehen lassen“, lautet ein Blurb auf der Rückseite des Romans, formuliert von Schriftstellerin Theresia Enzensberger. Das ist natürlich Quatsch, an Berlin-Romanen mangelt es nun wirklich nicht (siehe Neuerscheinungen im Herbst und im Frühling). Doch schreibt Latronico eben nicht schon wieder über die wilden 90er Jahre oder das zerrupfte West-Berlin der 80er Jahre – sondern über die Gegenwart einer Stadt und eine ganze Generation, die streng genommen „zu spät“ kam. Und über eine Stadt, die trotzdem niemals zur Ruhe kommt. Aber „Ab 22 Uhr bitte ruhig sein, sonst beschweren sich die Nachbarn“, wa?

Vincenzo Latronico
Die Perfektionen
Claassen/Ullstein Verlag

Dieser Text erschien zuerst auf meinem Blog „Berlin-Journal Fräulein Julia