Ich gehe, also bin ich

Square

Seit langem sind Autor*innen fasziniert vom Gehen. Ich stelle euch vier Bücher vor, die sich literarisch und wissenschaftlich damit auseinandersetzen – und Lust machen, selbst loszulaufen.

Kürzlich wanderte ich mit meinem Bruder den West Highland Way in Schottland: 154 Kilometer in acht Tagestouren, die kürzeste Etappe 10km, die längste 25km. Zunächst trugen wir noch unser Gepäck auf den Schultern – obwohl ich mich enorm zurückgehalten hatte, waren es letztendlich doch 12kg –, später entdeckten wir, dass man sich den Rucksack für wenig Geld von Station zu Station liefern lassen kann. Ab da an waren die Schultern frei – und der Kopf auch.

Wir begannen, in einem gemäßigten, aber nicht langsamen Tempo durch die Landschaft zu gehen, liefen durch Felder voller bluebells, entlang eiskalter Wasserfälle und dem gesamten Loch Lomond, durch Moore und die karge Steinlandschaft der Highlands. Je länger wir gingen, desto weniger redeten wir, desto langsamer wurde mein Gedankenstrom. Ich meditierte, während ich einen Wanderstiefel vor den nächsten setzte, spürte den Nieselregen auf meinen Wangen, sog die feuchte, kühle Waldluft ein. Ich ging und ging und ging und dachte und dachte und dachte. Ich war nicht nur eins mit mir selbst, sondern auch mit der Natur. An jedem Tag begleitete uns ein Kuckuck.

Gehen
Unterwegs auf dem West Highland Way

Abends fiel ich erschöpft ins Stockbett, lehnte die Beine senkrecht nach oben gegen die Wand und las ein paar Seiten in Alte Wege von Robert MacFarlane, bevor mir die Augen zufielen. MacFarlane, einer der bekanntesten nature writer aus Großbritannien, beschreibt darin seine Reisen entlang verschiedener Wege: Pilgerpfade, uralte Wege in England, Wanderungen durch das Watt oder Segeltrips über das Meer. Seine Naturbeobachtungen flicht er dabei in kulturhistorische und philosophische Gedanken über das Gehen ein, zitiert Jean-Jacques Rousseau und Søren Kierkegaard, Henry David Thoreau und Edward Thomas. Und beobachtet sich selbst und seine Reaktionen auf die vielen Meilen, die er zurücklegt (MacFarlane startet oft vor Morgengrauen und wandert selten unter 30 Kilometern pro Tag):

„Wer jemals eine lange Strecke gewandert ist, Tag um Tag, der weiß, wie die Müdigkeit des Gehens alles bis auf die grundlegenden Gehirnfunktionen lahmlegt. Nach dreißig Kilometern habe ich einen Tunnelblick und stiere dümmlich auf die immergleichen Sequenzen in meinem „Schädelkino“, wie John Hillaby es einmal nannte“
(aus: Robert MacFarlane Alte Wege)

Gehen

Als ich am dritten Tag unserer Reise am Morgen die Füße auf den Boden stellte und laut aufseufzte – ich hatte ja keine Ahnung, wie viele Muskeln ich in meinen Füßen habe! –, zweifelte ich kurz daran, mich an diesem Tag überhaupt fortbewegen zu können. Doch die Unterkünfte waren im Voraus gebucht, wir hatten schlicht keine Wahl, wir mussten weiter. Zwei Kilometer später war der Muskelkater vergessen, meine weichen Wanderschuhe trugen mich durch die Heidelandschaft, als wäre nichts gewesen. In meinem Kopf lief „And I would walk 500 miles, and I would walk 500 more…“ in Dauerschleife. Als ich am Abend meinem Bruder vorschlug, noch einen kleinen Spaziergang zu machen, schaute mich dieser entsetzt an. Mich hatte offensichtlich das Walker’s High erwischt:

„Es gibt einen Punkt, ein Stadium, in dem das Gehen spürbar eine Grenze überschritten hat; ich habe keine Lust mehr, Halt zu machen, will einfach weitergehen, gehen, gehen, es spielt keine Rolle mehr, wo und warum, in welche Richtung, das Gehen ist mir in Fleisch und Blut übergegangen, es ist ein Rausch, ein Freiheitsrausch.“
(aus: Tomas Espedal Gehen oder die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen)

Und Tomas Espedal muss es wissen: In seinem Buch Gehen oder die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen läuft der Erzähler eines Tages los und hört einfach nicht mehr auf zu gehen. Frisch verlassen, ordentlich verkatert, eigentlich ist alles scheiße in seinem Leben. Aber das Gehen, das macht ihn glücklich. Auch er bezieht sich in seinem Gedankenstrom – die Gedanken flattern von Blüte zu Blüte, fließen ineinander – auf Rousseau und weitere Vorgänger des professionellen Gehens. Auch er ist ein Mann, der sich ohne Ängste und Zweifel durch ein fremdes Stadtgefüge tasten und im Freien übernachten kann. Und auch wenn man als Frau geneigt ist, diesbezüglich etwas Neid zu empfinden oder das Buch in die Kategorie Alte weiße Männer in der midlife crisis einzuordnen, besitzt es die typische Espedal’sche nüchterne Poesie, der man sich nur schwer entziehen kann.

Gehen

Ähnlich nüchtern formuliert auch Erling Kagge. Sei es über die Stille oder über das Gehen: Kurze Absätze, Gedankenfetzen, Ideen und Erinnerungen füllen den kleinen Band des norwegischen Landsmannes von Espedal:

„Gehen ist eine Mischung aus Bewegung, Demut, Gleichgewicht, Neugierde, Geruch, Geräusch, Licht und wenn ich lang genug gehe: Sehnsucht.“
(aus: Erling Kagge Gehen. Weiter Gehen – Eine Anleitung)

Kagge läuft nicht nur kreuz und quer durch seine Heimatstadt Oslo, er wanderte bereits zum Nord- und zum Südpol, auf den Mount Everest, durch das Fußgängerunfreundliche Los Angeles – und durch die Kanalisation in New York. Sein Fazit: Man kann seinen Problemen nicht wirklich davongehen, aber eine Weile lenkt es zumindest von den Miseren des Lebens. Manchmal ist hinterher auch alles besser.

Gehen

Und dann doch noch eine Frau. Rebecca Solnit, die in Deutschland den meisten wohl durch ihre Bücher Wenn Männer mir die Welt erklären und Die Mutter aller Fragen bekannt ist, schrieb bereits im Jahr 2000 die Abhandlung Wanderlust. Eine Geschichte des Gehens, jetzt wurde der Text von Daniel Fastner ins Deutsche übertragen.

„Die Geschichte des Gehens ist eine ungeschriebene, verborgene Geschichte, deren Fragmente sich über Tausende beiläufige Passagen in Büchern und Liedern und über nahezu aller Menschen Abenteuer verteilen.“
(aus: Rebecca Solnit Wanderlust. Eine Geschichte des Gehens)

Und so lässt sich die Autorin fröhlich durch die Zeitgeschichte treiben, von den Anfängen des aufrechten Gangs über den Einfluss des Spazierens auf die Denkleistung der Schriftsteller im 18. Jahrhundert bis hin zu alten und modernen Pilgerreisen. Ähnlich wie Kagge und Espedal wählt auch Solnit einen analytisch genauen, schnörkellosen Sprachstil, der angesichts der Fülle von Informationen, Namen und Jahreszahlen auch angebracht ist. Doch analytisch bedeutet in diesem Falle nicht gleich langweilig: Ihr durch die (Kultur-)Geschichte des Gehens zu folgen fühlt sich an, als laufe man neben der Autorin her, könne sogar einen Blick in ihren Kopf werfen und gleichzeitig die pointierten Sätze zum Leben erwecken. Wer Solnit liest, hat das Gefühl, zu gehen – selbst wenn man dabei eingekuschelt auf dem Sofa liegt.

Gehen

Nach acht Tagen Wanderung durch die Natur waren meine Sinne geschärft, eine angenehme Ruhe hatte Einzug in meinen sonst ziemlich rastlosen Geist gehalten und ich reagierte empfindlich auf die lauten Geräusche in der Stadt. Aber ich lief weiter: nicht mehr über weichen Waldboden, sondern über Asphalt, nicht mehr zwischen Bäumen entlang, sondern durch die trubeligen Städte der schottischen Ostküste. Von der naturverbundenen Wanderin wurde ich wieder zur urbanen Flâneuse – aber ich ging und ging und ging und dachte und dachte und dachte auch hier. Denn schon Rousseau sagte: „Das Gehen hat etwas, was meine Gedanken erregt und belebt; wenn ich mich nicht bewege, kann ich kaum denken, mein Körper muß gewissermaßen in Schwung geraten, um auch meinen Geist zum Schwingen zu bringen.“

Die Wanderstiefel müssen noch eine Weile warten, bis sie wieder für eine längere Tour eingesetzt werden. Doch gehen, spazieren, flanieren werde ich sooft es geht – oder darüber lesen.

Rebecca Solnit
Wanderlust. Eine Geschichte des Gehens
Aus dem Englischen von Daniel Fastner
Matthes & Seitz 2019
Gebunden, 384 Seiten, 30,-Euro

Erling Kagge
Gehen. Weiter gehen – Eine Anleitung
Aus dem Norwegischen von Ulrich Sonnenberg
Suhrkamp Verlag 2018
Gebunden, 160 Seiten, 16,-Euro

Tomas Espedal
Gehen oder die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen
Aus dem Norwegischen von Paul Berf
Matthes & Seitz 2011
Gebunden, 235 Seiten, 19,90,-Euro

Robert MacFarlane
Alte Wege
Aus dem Englischen von Andreas Jandl & Frank Sievers
Matthes & Seitz 2016
Gebunden, 346 Seiten, 32,-Euro

Robert MacFarlane
Alte Wege
Aus dem Englischen von Andreas Jandl & Frank Sievers
Matthes & Seitz 2016
Gebunden, 346 Seiten, 32,-Euro

Erschienen auf „Fräulein Julia“